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„Zeig Würde, Mutter“ – Rolleninterviews, Rollenmonologe und Standbilder zu einem Gedicht von Sergio Vesely

 

 

 

Liebe Schülerinnen und Schüler,

Hier stellen wir Euch drei Aufgaben zur szenischen Interpretation eines Gedichts vor.

Das Gedicht ist von Sergio Vesely, einem Chilenen, der 1952 geboren wurde. 1973 wurde er nach dem Militärputsch unter dem Kommando Pinochets verhaftet und war zwei Jahre im Gefängnis. 1976 wurde er verbannt und kam in die Bundesrepublik Deutschland, zehn Jahre später bekam er auch die Staatsbürgerschaft. 1977 wurden seine ersten Gedichte in deutscher Sprache in einer Anthologie der deutsch-lateinamerikanischen „Autorengruppe 79“ veröffentlicht.

Sergio Vesely schreibt nicht nur Gedichte, sondern ist auch Musiker, Schauspieler, Aktionskünstler und vieles mehr. Ein sehr interessanter, vielfältig begabter Künstler, der seine schwierige Vergangenheit in seinen Werken aufarbeitet.
So könnte man annehmen, dass auch dieses Gedicht – „Zeig Würde, Mutter“ – zumindest indirekt um ihn selbst geht.

Als Beispiel, wie eine solche szenische Interpretation aussehen kann, haben wir Videos, auf denen Ihr seht, wie die Aufgaben in einem Seminar an der Universität bearbeitet wurden.

Außerdem haben wir einige Links zusammen gestellt, wo Ihr Euch weiter über Vesely informieren könnt, es sind auch Hörbeispiele und anderes dabei.

Sergio Vesely:
http://www.schwabenpower.de/vesely/
http://www.autorengruppe79.de/sergio_vesely.htm

Hörbeispiele:
http://www.jpc.de/jpcng/poprock/detail/-/hnum/2304034?rk=home&rsk=hitlist
http://www.jpc.de/jpcng/poprock/detail/-/hnum/2304043?rk=home&rsk=hitlist
http://www.jpc.de/jpcng/poprock/detail/-/hnum/2304051?rk=home&rsk=hitlist
http://www.jpc.de/jpcng/poprock/detail/-/hnum/2435459?rk=home&rsk=hitlist
http://www.amazon.de/Lieder-für-Gross-Klein-Kinderlieder/dp/B000028CKU/ref=sr_1_2?ie=UTF8&s=music&qid=1213305086&sr=8-2

Autorengruppe 79:
http://www.kulturserver.de/-/organisationen/detail/23741

Weitere Hintergrundinformationen:

Santiago de Chile:
http://de.wikipedia.org/wiki/Santiago_de_Chile

Junta:
http://de.wikipedia.org/wiki/Junta

Augusto Pinochet:
http://de.wikipedia.org/wiki/Augusto_Pinochet

Szenische Interpretation: Standbild, Rollenmonolog, Rolleninterview
ROLLENMONOLOG

Sergio Vesely: Zeig Würde, Mutter

Zeig Würde, Mutter,
wenn Du das Gefängnis betrittst,
wenn Du darum bittest, mich sprechen zu dürfen.
Beuge Dich nicht vor ihnen,
erniedrige Dich nicht.
Sie sollen die Verachtung in Deinen Augen spüren
und fühlen, wie eine Mutter sie beschämt.
Vor allem aber,
laß sie keine einzige Träne sehen…
erlaube ihnen niemals,
sich an Deinem Schmerz zu weiden.

1. Lest das Gedicht und formuliert, was für Euch die Kernaussage ist.

2. Erarbeitet einen Rollenmonolog aus der Sicht einer der im Gedicht vorkommenden Figuren (Mutter, Sohn, Gefängniswärter).
3. Stellt Euern Rollenmonolog der Klasse vor.

Viel Spaß!

Szenische Interpretation: Standbild, Rollenmonolog, Rolleninterview
ROLLENINTERVIEW

Sergio Vesely: Zeig Würde, Mutter

Zeig Würde, Mutter,
wenn Du das Gefängnis betrittst,
wenn Du darum bittest, mich sprechen zu dürfen.
Beuge Dich nicht vor ihnen,
erniedrige Dich nicht.
Sie sollen die Verachtung in Deinen Augen spüren
und fühlen, wie eine Mutter sie beschämt.
Vor allem aber,
laß sie keine einzige Träne sehen…
erlaube ihnen niemals,
sich an Deinem Schmerz zu weiden.

1. Lest das Gedicht und formuliert, was für Euch die Kernaussage ist.

2. Erarbeitet ein Rolleninterview mit einer der im Gedicht vorkommenden Figuren (Mutter, Sohn, Gefängniswärter).
3. Stellt Euer Interview der Klasse vor.

Viel Spaß!

Szenische Interpretation: Standbild, Rollenmonolog, Rolleninterview
STANDBILD

Sergio Vesely: Zeig Würde, Mutter

Zeig Würde, Mutter,
wenn Du das Gefängnis betrittst,
wenn Du darum bittest, mich sprechen zu dürfen.
Beuge Dich nicht vor ihnen,
erniedrige Dich nicht.
Sie sollen die Verachtung in Deinen Augen spüren
und fühlen, wie eine Mutter sie beschämt.
Vor allem aber,
laß sie keine einzige Träne sehen…
erlaube ihnen niemals,
sich an Deinem Schmerz zu weiden.

1. Lest das Gedicht und formuliert, was für Euch die Kernaussage ist.

2. Erarbeitet ein Standbild zum Gedicht.
3. Stellt Euer Standbild der Klasse vor.

Viel Spaß!


„Zeig Würde, Mutter“ – Rolleninterviews, Rollenmonologe und Standbilder zu einem Gedicht von Sergio Vesely

 

 

 

 

Sachanalyse

Zum Autor
Sergio Vesely wird 1952 als Enkel böhmischer Einwanderer in Chile geboren. Als Student schließt er sich einer radikalen sozialistischen Gruppierung an und wird 1973 nach dem Militärputsch verhaftet.
Erste Lieder, Gedichte und Zeichnungen entstehen während seiner zweijährigen Haft in verschiedenen Gefängnissen und Konzentrationslagern.
1976 wird Vesely aus Chile verbannt und kommt in die Bundesrepublik Deutschland, wo er Asyl bekommt und zehn Jahre später auch die deutsche Staatsbürgerschaft.
1977 werden seine ersten Gedichte in deutscher Sprache in der von Urs Fiechtner herausgegebenen Anthologie der deutsch-lateinamerikanischen „Autorengruppe 79“ veröffentlicht.
Vesely und Fiechtner arbeiten auch im Weiteren eng zusammen, sie bringen mehrere gemeinsame Bücher heraus und treten zusammen in Konzertlesungen auf.
Sergio Vesely ist ein Multitalent, das sich selbst als Liedermacher, Grafiker, Maler, Schriftsteller, Sänger, Aktionskünstler, Objektkünstler, Schauspieler und Poet bezeichnet.
Es sind bis jetzt 13 LPs und CDs sehr unterschiedlicher Stilarten von ihm veröffentlicht, darunter zum Beispiel einige in schwäbischer Mundart.
Aktuelle Projekte Veselys sind Kinderkonzerte, Liederabende, Konzertlesungen, Filmkonzerte, Hauskonzerte, Wandmalereien, Ausstellungen, Workshops u.a.

Zum Text
Bei dem von uns ausgewählten Text handelt es sich um das Gedicht „Zeig Würde, Mutter“. Es ist ein kurzes, aus elf Versen bestehendes Gedicht, welches keinem Versmaß und keinem Reimschema unterliegt.
Das Gedicht wird aus der Perspektive eines lyrischen Ichs erzählt, von dem man annehmen kann, dass es sich um Vesely selbst handelt, der seine eigenen Erfahrungen reflektiert. Das lyrische Ich spricht seine Mutter an und bittet sie, beim ihrem Besuch im Gefängnis keine Schwäche zu zeigen, sondern im Gegenteil sich hoch erhobenen Hauptes den Wärtern zu stellen. Das Gedicht ist 1990 erschienen in einem gemeinsamen Buch Veselys und Fiechtners:Urs M. Fiechtner / Sergio Vesely: Notizen vor Tagesanbruch, Baden-Baden, Signal-Verlag, 1990 (I.6: S.33)

Didaktische Reduktion
Wir haben uns bei den vielfältigen Möglichkeiten, die ein Gedicht zur Interpretation bietet, auf die Hintergründe der einzelnen Figuren konzentriert, da sich das auch am meisten mit unserer Methode, der szenischen Interpretation, deckt. Uns ging es darum, dass sowohl die Gefühle des Sohnes und der Mutter, aber auch die des Wärters deutlich gemacht werden. So interessieren die Hintergründe der Figuren, zum Beispiel, warum der Sohn im Gefängnis ist; ob die Mutter ihn aus Pflichtgefühl oder aus Liebe besucht; ob die Mutter denkt, dass der Sohn unschuldig ist; in welch einer Kultur sie leben, dass die Mutter vom Sohn ermahnt wird, sich würdevoll zu zeigen; und warum ein Wächter sich an der Trauer einer Mutter weiden sollte.
Solche und viele andere Fragen wollen wir an dem Gedicht untersuchen lassen, es sollen die „Leerstellen“ des Textes, die vorliegen, da nur eine Person zu Wort kommt, ausgefüllt werden.

Didaktisch-methodische Entscheidungen
Die Doppelstunde beginnt mit einer theoretischen Einführung in die szenische Interpretation. Dies bietet sich im universitären Kontext an, da nicht die Interpretation eines Textes, sondern das Kennenlernen und Erlernen von Methoden im Vordergrund steht. Führt man die Unterrichtssequenz mit Schülern durch würde man diesen Teil kürzen oder komplett auf ihn verzichten.
In der Einführung soll auf die Punkte Entwicklung, Definition, Ziele, Auswertung sowie Regeln und Rollen eingegangen werden. Anschließend werden einige Aspekte zu den drei ausgewählten Methoden Rollenmonolog, Rolleninterview und Standbild näher erläutert.
Rollenmonologe: Nach Ingo Scheller „kommen [sie] zu Einsatz, wenn sich eine Figur Klarheit über eine Situation, über ihr Inneres, über Erwartungen und Motive verschaffen soll.“ Rollenmonologe dienen also dazu, sich intensiv in eine Person hineinzuversetzen. Sie können in unserem Beispiel nicht nur zum intensiveren Verständnis des Sohnes und seiner Lage beitragen (& zum Füllen der Leerstellen: Warum ist der Sohn im Gefängnis? Wann? Wo?), sondern auch den Fokus auf die beiden „stummen“ Personen, die Mutter und den Gefängniswärter, lenken, die, wenn man nicht explizit zu ihrer Betrachtung auffordert, schnell unter den Tisch fallen würden. Zudem kann man sich so auch Fragen, die Text aufwirft, nähern, wie: Warum ist der Sohn im Gefängnis? Wo und wie lange? Wie reagiert seine Mutter?
Rolleninterviews: Sie ermöglichen bei unserer Aufgabe einen noch fokussierteren Blick auf die Personen als beim Monolog, weil die Teilnehmer sich präzise Fragen überlegen müssen, die auf die Leerstellen zielen. „Das Verhalten der Figuren kann dabei hinterfragt, das Geschehen im Gespräch differenziert betrachtete und aus der Rollenperspektive reflektiert werden. Die an der Szene beteiligte Person wird aufgefordert, Einstellungen preiszugeben, offenen Fragen zu beantworten, ihr Verhalten zu rechtfertigen oder Stellung zu bestimmten Themen zu nehmen.“, definiert Ingo Scheller.
Standbilder: „Standbilder sind bildliche Darstellungen von sozialen Situationen, Personen, Personenkonstellationen, Beziehungsstrukturen und Begriffen. Standbildverfahren sind leicht erlernbar und auch unter schulischen Bedingungen mühelos und ohne großen Aufwand verwendbar.“ Somit ist diese Form der szenischen Interpretation besonders für ungeübte Schüler ein guter Einstieg. Bezogen auf das Gedicht „Zeig Würde, Mutter“ helfen sie, mögliche Personenkonstellationen durchzuspielen, z.B. mit verschiedenen Haltungen der Mutter gegenüber ihrem Sohn.
Verfahren der szenischen Interpretation bieten sich bei dem Gedicht an: Es wirft zunächst viele Fragen auf (s.o.), und die hier vorgestellte Methoden helfen, sich diesen zu nähern und Schwerpunkte für die Interpretation zu setzen. An die szenischen Verfahren kann und sollte sich eine weiterführende Interpretation anschließen.
Das Gedicht selber eignet sich deshalb gut für eine szenische Interpretation, weil es schnell zu rezipieren ist, klar und leicht verständlicher, aber dennoch viele Fragen aufwirft. Diskussionswürdige und für Schüler interessante Themenkreise wie Macht, Unterdrückung, Widerstand, Verbrechen, aber auch Mutter-/Elternliebe werden angesprochen.
Problematisch für Schüler könnte ihre Unerfahrenheit und Gehemmtheit im Umgang mit Textproduktion und der Präsentation vor Publikum sein. Da es bei der szenischen Interpretation, anders als beim darstellenden Spiel, nicht um die Aufführung eines fertigen Produktes geht, sollte hier die Hemmschwelle geringer sein.
Die Gruppengröße sollte drei nicht überschreiten. Für ein Standbild würden so alle Figuren abgedeckt, die Monologe und Interviews sollen ebenfalls nicht als Partnerarbeit, sondern durch Gruppenarbeit und -diskussion entstehen.
In der Erarbeitungsphase sollen die Teilnehmer im Gespräch und in der Diskussion erste Interpretationsmöglichkeiten ausloten und zu einem Konsens kommen. Es ist aber natürlich auch möglich, verschiedene Deutungsvarianten anzubieten. Dem Lehrer kommt dabei eher eine beratende als Rolle zu, nicht die eines Vermittlers von Inhalten.
Bei der anschließenden Präsentation werden die Ergebnisse der einzelnen Gruppen im Plenum vorgestellt. Über eventuelle inhaltliche Nachfragen wird dann übergeleitet zur Auswertung. Dabei werden die Gruppen aufgefordert zu berichten, welche Fragen im Vordergrund standen, welche Deutungsmöglichkeiten diskutiert wurden und wo es Probleme gab. Natürlich sollen die Teilnehmer sich auch mit den Arbeiten der anderen Gruppen auseinandersetzen.

Die Lehr-Lernziele können wie folgt aussehen:
Kognitive Ziele:
Erkenntnis, wie man sich ein Gedicht wie „Zeig Würde, Mutter“ erschließen kann; Benennen von Leerstellen
Affektive Ziele:
Einfühlung in Unterdrückte, Unterdrücker, Liebende (Mutter)
Psychomotorische Ziele:
Erleben des szenisches Spiels (Standbilder), des Klassenraums als Bühne
Soziale Ziele:
Trainieren von Gruppenarbeit, Ermöglichen und Unterstützen einer produktiven Arbeitsatmosphäre

Erwartungshorizont
Unsere Erwartungen sind, dass sich die Schülerinnen und Schüler auf die vermutlich ungewohnte Methode, ein Gedicht kennenzulernen und zu erschließen, einlassen und Spaß daran finden. Sie sollen erkennen, wo in dem Gedicht Leerstellen vorhanden sind, zum Beispiel die Frage, warum das lyrische Ich im Gefängnis ist.
Sie sollen erkennen, dass szenische Interpretation sich nicht nur auf Dramen- und Prosatexte, sondern auf alle literarischen Formen anwenden lässt, und vielleicht wird damit auch ein bisschen die Barriere abgebaut, die viele Schülerinnen und Schüler angesichts einer Gedichtinterpretation errichten.
Bezogen auf den Inhalt des Gedichts soll erreicht werden, dass die Schülerinnen und Schüler sich in die Situation sowohl des Gefangenen als auch der Mutter und sogar des Gefängniswärters einfühlen, die für sie ja eine fremde ist, es sei denn, in einer Familie ist schon Ähnliches vorgekommen. Darauf müsste ggf. eingegangen werden.
Durch die Methoden des Rolleninterviews und des Rollenmonologs sollte diese Einfühlung leichter gelingen als durch eine bloße Interpretation beziehungsweise Analyse des Textes.
Natürlich sollen die Schülerinnen und Schüler auch körperliche Erfahrungen machen, wie es sich anfühlt, den Klassenraum als „Bühne“ umzugestalten, wie schwierig oder auch nicht so schwierig es ist, Gefühle, Haltungen und Beziehungen körperlich darzustellen. Zudem ist das Erleben, dass man in seiner Rolle anders handeln kann als privat, eine wichtige Erfahrung. Außerdem soll die besondere und intensive Art der Gruppenarbeit sich positiv auf den Zusammenhalt in der Klasse auswirken.

ca. Min.PhaseUnterrichtsgeschehenSozial-/ UnterrichtsformMaterial / Medien1informierender Unterrichtsbeginn- Erklärung des UnterrichtsvorhabensLehrervortrag2-22Einführung- Teil 1: Szenische Interpretation allgemein
– Teil 2: Rollenmonologe
– Teil 3: Rolleninterviews
– Teil 4: StandbilderLehrervortragggf. Tafelbild,
OHP-Folien
23-25Erteilung der Aufgabenstellung- Erläuterung der Aufgabenstellung
– Einteilung in Gruppen à 3 Personen (Losen, Abzählen o.ä.)
– Ggf. Einteilung der verschiedenen „Perspektiven“ (Mutter, Sohn, Wärter)Arbeitsblätter,
ggf. Lose, Personenkärtchen26-56Erarbeitung- Schriftliche Formulierung der Kernaussage
– Erarbeitung eines Rollenmonologes, -interviews oder Standbildes
– Lehrer gibt ggf. Hilfestellung / betreut die GruppenGruppenarbeitNutzung des Flurs, mehrerer Räume57-67Präsentation- Gruppen präsentieren nacheinander ihre Ergebnisse
– ggf. Beantworten von Verständnisfragen„Bühne“68-88Auswertung- Besprechen der einzelnen Präsentationen, der verschiedenen MethodenUnterrichtsgespräch

Reflexion der Durchführung im Seminar
Auf den einleitenden theoretischen Teil, der in diesem begrenzten Rahmen nicht reflektiert wird, folgte die Gruppeneinteilung per Zufallsprinzip. Dazu wurden die Arbeitsblätter mit den unterschiedlichen Verfahren verteilt, und die Seminarteilnehmer fanden sich daraufhin je nach Methode in Gruppen zusammen (1x Rollenmonolog, 2x Rolleninterview, 1x Standbild, je drei Personen). Die Verteilung der Arbeitsblätter hätte schneller erfolgen können, doch aufgrund der vorher schwer einzuschätzenden Teilnehmerzahl mussten wir spontan ausrechnen, wie genau wir die Gruppen besetzen konnten und wollten. Zusätzlich verteilten wir „Perspektivenkärtchen“ für die Rollenmonolog- und Rolleninterviewgruppe(n), sodass nicht alle Gruppen die gleiche Figur wählten. Die Gruppen verteilten sich in unterschiedliche Räumlichkeiten, gingen auf den Flur oder auch nach draußen, und begannen, manche mit Startschwierigkeiten, die sich aber nach vertiefter Lektüre des Gedichts und Diskussionen innerhalb der Gruppen schnell verflüchtigten, an ihren Rolleninterviews, -monologen und Standbildern zu arbeiten. Nachdem alle anderen Gruppen innerhalb der veranschlagten Zeit präsentationsbereit waren, ließ eine Gruppe auf sich warten. Hier hätten wir vielleicht noch mehr auf Einhaltung des zeitlichen Rahmens drängen können, wir waren jedoch durch einen einkalkulierten zeitlichen Puffer für diese Situation gerüstet.
Die Präsentation erfolgte innerhalb eines Stuhlhalbkreises. Zunächst präsentierte die Gruppe, die ein Rolleninterview mit dem Gefängniswächter erarbeitet hatte. Darin wurde thematisiert, wie sehr der Wächter seinen Beruf mag. Die im Gedicht anklingende Unterstellung des Sadismus wurde direkt aufgegriffen und bestätigt.
Die nächste Gruppe stellte ein Rolleninterview mit der Mutter vor. Darin wurden die Themen Stolz, Würde, die Rolle der Mutter in der Familie und auch in der Kultur angesprochen. Es wurde nach dem Erlebnis der Festnahme gefragt. Das Delikt war Steuerhinterziehung. Die Situation wurde im Deutschland der Gegenwart verortet (die GEZ wurde erwähnt).
Der darauffolgende Rollenmonolog aus Perspektive des Sohnes thematisierte den Hass eines in Abschiebehaft gehaltenen jungen Mannes gegenüber einem Land, das ihn „wie ein Stück Dreck“ behandelte und die Hoffnung, seine Mutter möge den Machthabern doch die Stirn bieten. In dieser Interpretation wird die unterstellte Herablassung des abschiebenden Landes dem Stolz des Gefangenen gegenübergestellt. Gängige Vorurteile wurden untergraben und die Ungerechtigkeit der Situation wurde herausgestellt.
In dem anschließend vorgestellten Standbild wurden nicht wie vielleicht von einigen erwartet die drei im Gedicht vorkommenden Personen dargestellt, sondern – viel kreativer – der Sohn und zwei unterschiedliche Haltungen der Mutter: eine stolze, in der die im Gedicht ausgedrückten Erwartungen des Sohnes erfüllt wurden, und eine beschämte, die die Erwartungen enttäuschte.
In einer abschließenden Auswertungsrunde wurden nun die vorgestellten Interpretationen, eventuelle Schwierigkeiten in der Erarbeitung und die Wirksamkeit der benutzten Methoden diskutiert. Die Gruppe, die das Rolleninterview mit der Mutter erarbeitet hatte, sah ihre größte Schwierigkeit in der Offenheit der Aufgabenstellung bzw. des Gedichts selbst. Da wir keine Informationen zum Autor oder dem kulturellen Hintergrund gegeben hatten und sich auch im Gedicht keine diesbezüglichen Anhaltspunkte fanden, ließ sich die dargestellte Situation in sehr unterschiedlichen Kulturen und Zeiten verorten, was in der Erarbeitung ja auch aufgegriffen wurde. Was in der Gruppe teilweise als Manko gesehen wurde hatten wir bewusst entschieden, da eine Reduzierung auf einen bestimmten kulturellen Hintergrund zum Einen die Übertragbarkeit der Situation auf verschiedenste Kulturen weniger verdeutlicht hätte und zum Anderen auch die Gefahr einer Stereotypisierung bestanden hätte.
Die zweite Interviewgruppe, die das Interview mit dem Wächter erarbeitet hatte, sah ihre Hauptschwierigkeit in der mangelnden Sichtbarkeit des Wächters im Gedicht. Dies waren jedoch Einstiegsprobleme, die sich nach genauerer Lektüre auflösten.
Der Rollenmonolog-Gruppe erschien es so, als hätten sie einen Tunnelblick entwickelt und sich nicht um die weiteren Figuren im Gedicht gekümmert, sich dafür jedoch sehr intensiv mit einer auseinandergesetzt. Genau das war ja auch Ziel der Aufgabenstellung.
In der Standbildgruppe war zunächst zu entscheiden, welche Figuren abgebildet werden sollten. Die Darstellungen von „Würde“ und „Stolz“ wurden als Herausforderung beschrieben. Der Gruppe fiel auf, dass sie im Gegensatz zu den anderen gar nicht über den kulturellen Hintergrund spekuliert und dass sie vergleichsweise nah am Text gearbeitet hatte. Es ist interessant, wie hier nicht versucht wurde, eine kulturelle Zuordnung zu treffen, wie Haltungen, Einstellungen, Gefühle vielleicht weniger kulturspezifisch gedacht werden, während in den Gruppen, die sich sprachlich ausdrücken mussten, ein sehr großes Bedürfnis nach kultureller Zuordnung bestand.
Die Frage nach der Wirksamkeit oder Nützlichkeit der erprobten Methoden wurde durchaus bestätigend beantwortet. Dem Einwand, dass die Textarbeit zu kurz kommt und ob dafür „herkömmliche“ analytische Verfahren angewandt werden müssten, konnten wir entgegensetzen, dass man beispielsweise in einem Rollenmonolog aus der Perspektive des Sohnes den Stil des Gedichts aufgreifen kann. Auch bei szenischer Interpretation werden Texte analysiert, jedoch nicht nach einem vorgegebenen Muster, sondern intuitiver, weniger linear und handlungsorientierter. Außerdem bleibt das Gelernte vergleichsweise besser im Gedächtnis, wenn es erlebt und präsentiert wurde. Die Verfahren wurden zudem als motivationssteigernd gewertet, da die Einfühlung in die Figuren Interesse weckt und unterschiedliche Möglichkeiten mit Texten umzugehen entdeckt werden.

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